Schlachten eines Huhns

Schlachten eines Huhns.

Heute würde jene Begebenheit, die 1955 eine Selbstverständlichkeit in unserer Familie und wohl überall auf dem Land war, von so manchen als abstoßend und ekelig empfunden werden. Doch bis hinauf in die Achtziger - Jahre des 20. Jahrhunderts wurde jene Vorgehensweise, die ich nun berichte, immer noch praktiziert. Ich kenne diese Geschichte aus den Erzählungen meiner um zehn Jahre älteren Schwester Poldi, die in den 50ern noch im Volksschulalter gewesen war. An einem Samstagmorgen im Frühling sollte Poldi unter der kleinen Hühnerschar in unserem Hof eine fast federlose, braune Henne einfangen. Besagte Henne hatte zwei Jahre fleißig Eier gelegt und nun als Eierproduzentin wohl ausgedient. Poldi sprintete also unserer Henne nach, zweimal rund ums Haus. Nach der zweiten Runde, beide waren schon sichtlich außer Atem, ließ sich das Federvieh doch noch einfangen. Und sogleich wurde unsere Großmutter, eine resolute Frau, geholt um die Henne zu schlachten.

Großmutter karrte also einen Hackstock aus der Scheune, und Poldi wurde um die Hacke in die Werkstatt geschickt. Nun gab die Ältere der Kleinen genaue Anweisungen, was sie zu tun hatte. Poldi drückte den Kopf der Henne, die sich natürlich mit all ihrer noch verbliebenen Kraft dagegen wehrte, auf den Hackstock, und Großmutter hielt sie an den Beinen fest schwang die Hacke - und der Kopf war ab. Dem aber nicht genug. Kaum ließ Großmutter die kopflose Henne los, machte sich diese plötzlich selbstständig und schoss wie wahnsinnig im Hof herum. Es war fast unglaublich, wie viel Energie noch in diesem vermeintlich leblosen Körper war. Sie mussten sich verschanzen, um von der herumrasenden Henne nicht angeflogen zu werden. Nach endlosen Minuten blieb sie urplötzlich mausetot liegen. Mutter hatte schon einen Kübel mit heißem Wasser vorbereitet und tauchte die tote Henne in das Wasser. Nun wurde die Henne gerupft bis sie nackt vor ihnen lag. Aus dem Hinterteil der Henne holte Mama mit ihrer Hand alle Innereien heraus. Die Hühnerleber legte sie auf einen Teller und den Rest der Innereinen warf sie der Hühnerschar zum Fraß vor. Diese machten sich über diese nicht alltäglichen Leckerbissen her und pickten alles restlos auf.

Für Poldi war es ein aufregender Vormittag gewesen, denn sie war unserer Großmutter eine große Hilfe in Sachen "Hühnerschlachten", und ich glaube, sie hatte gute Arbeit geleistet. Einige Stunden später gab es Mittagessen. Auf dem Tisch stand eine dampfende Schüssel Hühnergulasch und Semmelknödel. Während des Tischgebetes wanderten Poldis Blicke zu Großmutter hinüber und diese blinzelte ihr wohlwollend zurück. Ganz ohne Frage schmeckte dieses Hühnergulasch vorzüglich. Angesichts unserer großen Familie, wir waren neun Esser am Tisch, war das Schlachten eines Huhnes eine logische und notwendige Handlung, um unsere Familie satt zu bekommen, und niemand hegte Bedenken über das Geschehene.

Erzählung „Das Rad des Lebens" aus dem Buch „Der Duft der Kindheit“ von Eleonora Traxler (Verlag Bibliothek der Provinz) ISBN 978-3-902416-33-9
Mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt von der Autorin.

Hörschlag
1955
Verfasser

Eleonora Traxler, Lichtenau 19, 4264 Grünbach / Freistadt

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